Lederwarenfabrik J.H. Roser

Stadtkern und Vorstadt

Wenn wir uns der Geschichte, Architektur und Veränderung einer Stadt widmen, befassen wir uns meistens nur mit dem Stadtkern. Dabei erzählt nicht nur das Zentrum einer Stadt die Geschichte, sondern die Vororte vervollkommnen das Gesamtbild.

Bei meiner Beschäftigung mit Esslingen am Neckar und seiner Geschichte,habe ich zu Beginn viel über das Fachwerk gelesen,später dann auch über die Entwicklung ab der Zeit der Industrialisierung. Und je mehr ich gelesen habe, desto mehr ist mir aufgefallen, dass die Vororte die Geschichte weiter und anders erzählen, als der Kern der Stadt.

Meistens spielen Vororte aber eine untergeordnete Rolle. Doch gerade Esslingen am Neckar hat viele Vororte, die über die Zeit dazukommen sind und die das Stadtbild nicht nur optisch, sondern auch historisch erweitern.

Die Pliensauvorstadt ist ein Beispiel dafür. Auf meiner Suche nach besonderen Gebäuden und Geschichten, die die Stadt ausmachen, bin ich auf die Lederwarenfabrik J.H.Roser gestoßen.

Sie ist ein schönes Beispiel um über die Entwicklung von Vororten zu sprechen und gleichzeitig ein interessantes Zeitzeugnis aus der Zeit der Industrialisierung.

Die Lederwarenfabrik J.H. Roser

Die Wurzeln dieser Lederwarenfabrik reichen bis in das 18. Jahrhundert zurück. Kasper Roser, Obermeister der Gerberzunft, lebte zu diesem Zeitpunkt in Stuttgart. Das Handwerk der Lederverarbeitung und das Wissen um das Gerben wurde in der Familie weitergegeben, sodass Jakob Heinrich Roser, ein Ururenkel Kaspars, die Firma J.H. Roser gründete. Er führte mit dem Aufschwung der Industrialisierung den Handwerksbetrieb zu einem modernen und industriell geleiteten Großbetrieb. Als Datum der Gründung galt das Jahr 1806. Doch erst im Jahr 1875 zog die Firma von Stuttgart in die Pliensauvorstadt der Stadt Esslingen um.

Lederwarenfabrik

Es sollte ein neues Gebäude errichtet werden, dass den Großbetrieb beherbergen konnte. Dabei sollte der Grundriss, welchen die Architekten Wittmann und Stahl entwarfen, die Form eines lateinischen Kreuzes haben.

Ein lateinisches Kreuz für eine Fabrik?

Die meisten Kathedralen und großen Kirchen haben einen kreuzförmigen Grundriss. Darauf bezieht sich auch der Begriff “Lateinisches Kreuz”. In Kirchen westeuropäischer Tradition ist der Plan in der Regel in Längsrichtung in Form des sogenannten lateinischen Kreuzes mit einem langen Kirchenschiff, das von einem Querschiff durchzogen wird.

Jede Fabrik ist zunächst aber nur ein Nutzbau und hat auf den ersten Blick nichts mit den Grundrissen von Sakralbauten gemein. Eine Fabrik ist häufig so gestaltet, dass die Ansprüche an die Warenproduktion bestmöglichst unterstützt werden. Umso mehr überraschen die Industriebauten aus der Zeit des 19. Jahrhunderts. Ähnlich wie bei der Pressenfabrik Fritz Müller, waren auch bei der Lederwarenfabrik J.H. Roser ästhetische Ansprüche ein wichtiger Faktor. Es ist immer wieder beeindruckend, wie abwechslungsreich und künstlerisch Fabriken als Zweckbauten gestalten sind und waren.

Gerade zu Beginn der Industrialisierung orientierte man sich noch stark an gängigen Gebäudekonstruktionen. Nun mag das lateinische Kreuz zunächst unpassend zu sein, um als Grundriss für eine Fabrik zu dienen. Für die Aufteilung der Räume hingegen war die Wahl einer solchen Anordnung gar nicht so abwegig.

Zur Straße hin lag das Langhaus des Kreuzes, im Querhaus, das Magazin mit Kontor, waren die Wohnbereiche untergebracht.

Lederwarenfabrik

Eine solche Orientierung an sakralen Bauten ist während der Industrialisierung übrigens nichts Unübliches. Sogenannte Hüttenwerke sind ein weiteres Beispiel ür die Orientierung an sakraler Architektur bei Fabriken. Die Bauweise erinnert bei einem Hüttenwerk an eine dreischiffige Basilika mit erhöhtem Mittelbau.

Die Gestaltung der Fabrik J.H. Roser passte sich dem Grundriss in Kreuzform an. Sockel und Fensterumrahmungen wurden aus hellem bearbeitetem Naturstein hergestellt und der Turm erhielt eine überdachte Plattform. Weiterhin weist das historische Zierfachwerk auf eine gezielte Zitation vorhandener Baustile hin.

Zusätzlich wurde um das Fabrikgebäude ursprünglich eine Parkanlage angelegt und ein repräsentativer Eingang wies auf die Bedeutung der Fabrik, sowie auf die neusten Standarts hin: seien sie technischer, maschineller oder architektonischer Natur.

Lederwarenfabrik

Und heute?

Über die Jahrhunderte hinweg wurde der lange Arm des Kreuzes abgebrochen und stattdessen weitere zugehörige Bauten auf dem Gelände errichtet. Farbenwerkstätte, Lagerräume, Grubengebäude und viele mehr wurden errichtet und wieder abgerissen. In den 1960er Jahren wurde die Fabrik geschlossen und 1987 von Fa. Daimler aufgekauft.

Heute ist auch Daimler wieder aus dem Roser-Areal ausgezogen und aktuell sollen nun Wohnungen in dem Gebäude errichtet werden. Doch das ist wiederum Zukunftsmusik. Festhalten lässt sich im Moment nur: Die Fabrik J.H. Roser ist eines der ältesten erhaltenen größeren Industriedenkmäler Esslingens - und ich hoffe, dass sie uns noch lange erhalten bleibt.